10 Monate Schreibaby – ein schmerzvoller Rückblick

Kathrin Gastartikel 63 Kommentare

Es ist zwei Uhr in der Nacht, als die Tür des Krankenhauszimmers auffliegt – ohne vorherigen Anstands-Anklopfer. Die Schwester stürzt in den Raum, ihre Augen scannen uns, das leere Bettchen – erleichtert erblickt sie unsere drei Tage alte und wüst brüllende Tochter Emilia in meinem Arm. „Oooh, ein Glück. Ich dachte, Sie hätten sie fallen lassen!“ seufzt sie erleichtert und verlässt unser Familienzimmer. Ratlos schauen wir uns an: das Baby schreit überdurchschnittlich viel. Aber niemand geht weiter darauf ein…

Schreikind

Dass die Geburt ein geplanter Kaiserschnitt sein musste, liess sich leider nicht ändern; immerhin hatte ich den Tag nach dem errechneten Geburtstermin als Termin durchboxen können. Wir waren nun also Eltern eines kräftigen schönen Mädchens „mit starken Lungen“, wenn man der Hebamme Glauben schenken möchte. „Mit starkem Willen“, so der Kinderarzt. „Mit einer kräftigen Stimme“, hier waren sich zwangsweise alle einig.

Schon in der Klinik hatte ich sie immer bei mir, an mir, auf mir; ich brachte es nicht über mich, dieses niedliche Wesen in dieses seltsame Babybett zu legen. Umso mehr erstaunte mich, dass sie oft unzufrieden war, trotz Stillen nach Bedarf, trotz ausgiebigsten Kuschelns. Die Mahlzeiten dauerten länger und länger, die Schlafphasen wurden kürzer, das Baby unruhiger. „Ganz normal“, wie meine Hebamme erklärte, „Sie sind ja so nervös. Und Ihre Nervosität überträgt sich halt aufs Kind.“ Ihr Rat lautete, das Baby anzudocken, ehe es überhaupt richtig wach würde – doch unser Baby riss die Augen auf und brüllte sich in der selben Sekunde die Seele aus dem Leib. Keine Anzeichen, kein Nuckeln am Fäustchen, kein Schmatzen – vielmehr ein hochroter Kopf, geballte Hände, ein angespannter Babykörper. Stillen schien sie zu beruhigen, zumindest so weit, dass sie mal nicht schrie – also stillte ich. Neun Stunden in 24h; später dann bis zu 14 Stunden, denn nur dann schien sie ansatzweise zufrieden und lächelte mich manchmal an. Manchmal.

Unsere Sorge wuchs: Was ist mit unserem Kind, dass es derart unglücklich seine Proteste in die Welt hinausschreit? Am meisten hasste sie es, zu liegen; wir führten das auf ihren ausgedehnten Reflux zurück, sie spuckte viel. Manchmal schlief sie aufrecht auf unseren Armen, während wir selbst saßen, manchmal – also schliefen wir von nun an abwechselnd im Sitzen.

Der Kinderarzt kicherte zu Anfang vergnügt und nannte sie einen „kleinen Wutzwerg“, später aber spürte ich seine Ungeduld nur zu deutlich: das Kind hat Koliken, ganz einfach, und Koliken sind nach einigen Wochen vorbei. Als sie das nicht waren, benannte er die sicherlich nun einschiessenden Zähne. „Sie wollten doch Kinder, nun haben Sie eins. Und Kinder machen nunmal Krach.“ Dennoch verschrieb er bei jedem unserer (zahlreichen) Besuche etwas anderes – meist Dinge, die die Verdauung regulieren sollten. Doch Bauchweh schien das einzige zu sein, das unsere Emilia nicht hatte.

Sie wand sich, während unsere Hebamme uns demonstrierte, wie wohl sich alle Babies in Tragehilfen fühlen und dicke Tränen rannen über Emilias winziges Gesicht. Ich weinte stumm mit, während das Bündelchen in einer Wickelkreuztrage vor Papas Brust verschwand. Sie war untröstlich, und an Tragehilfen konnten wir sie, trotz zahlreicher Versuche, nie gewöhnen. Was aber, wie die Vertretung unserer Hebamme mitteilte, auch an unserer Unfähigkeit liegen könne, das Tuch richtig zu binden.

Der empfohlene Osteopath war eine gute Autostunde entfernt; übermüdet, doch hoffnungsvoll, machten wir uns auf den Weg. Er behandelte die Maus, die das gar nicht witzig fand, kassierte 150 Euro, die von der Kasse auch nicht in Teilen übernommen wurden und verordnete Globuli, die ich nehmen sollte. Ich tat es, obgleich ich nichts davon halte und es brachte uns nichts. Auch ein weiterer Besuch beim Osteopathen brachte keine Wendung zum Besseren – hat aber vielleicht einer Verschlechterung vorgebeugt? Das bleibt ein Geheimnis.

Ich zog mich mehr und mehr zurück; mein Baby war das, das den Rückbildungskurs derart zusammenschrie, dass ich vorzeitig gehen musste. Das die Stillgruppe immer so störte, dass sich keiner unterhalten konnte. Das im PeKIP völlig ausrastete. Das jedes Telefonat unmöglich machte und jede Autofahrt zur Tortur werden liess. Der Bekanntenkreis hatte sich inzwischen gelichtet, Gespräche waren ja auch kaum möglich. Die Familie konnte den „Affentanz“, den wir veranstalteten, nicht verstehen. Kein Wunder, dass sie so schreit – sie hat den Bogen halt schon raus, tanzt uns auf der Nase herum und wir würden schon sehen, wo wir mit der Rumtragerei und der Auf-dem-Arm-schlafen-Lasserei hinkommen.

Einfach mal schreien lassen, dann lernt sie es. Wie also hätte ich guten Gewissens das Kind abgeben können? Sie abzugeben hätte mir in dieser Situation, so widersinnig das klingen mag, keinerlei Entlastung gebracht. Auf der einen Seite musste ich davon ausgehen, dass man sie“zu Erziehungszwecken“ schreien lassen würde. Auf der anderen Seite hatte ich eine atemlose Angst davor, dass sie bei anderen vielleicht nicht schreien würde – denn das würde meine Unfähigkeit als Mutter doch nur besiegeln. Und ich fühlte mich unfähig. Nutzlos. Würde das Baby die anderen dann lieb haben, nur mich nicht?

Wir besorgten uns einen Termin in der Schreiambulanz, den wir auch sehr umgehend bekamen. Wir stießen hier auf sehr viel Ruhe und Verständnis, es wurde so lieb auf uns eingegangen, dass schon das alleine mir die Tränen in die Augen trieb. Doch helfen, sagte die Frau, helfen könne sie uns nicht. Sie sehe unsere Erschöpfung, auch das Baby hatte inzwischen tiefe Augenringe, sie sehe die Mühe und die Liebe – doch einen Tipp hatte sie nicht für uns. Körperliche Ursachen waren ja nun mehrfach ausgeschlossen worden, von Hebammen, Kinderärzten, und auch bei den Vorsorgeuntersuchungen war nichts auffällig gewesen – ausser halt der Tendenz des Kindes, viele Stunden am Tag zu schreien. Ganz viele.

Sie schlief in 24 Stunden etwa 8 Stunden, und die nicht am Stück; die längste Etappe war meist etwa 45 Minuten. Nur angedockt verfiel sie in so etwas wie einen Dämmerzustand, aber im Liegen zu stillen bekamen wir einfach nicht hin, also saß ich. Ich hatte tiefe Augenringe, ein eingefallenes Gesicht und fühlte mich vor Müdigkeit ganz flau. Seit Monaten hatte ich nicht mehr als eine Stunde am Stück geschlafen und glaubte zu halluzinieren. An einem Nachmittag lag ich mit dem Baby im Arm im (Familien-)Bett, in der Hoffnung auf ein halbes Stündchen Ruhe; doch das Baby schrie und wollte sich nicht beruhigen. Ich schlief dennoch (wenn auch nur kurz) ein, eng an das schreiende Baby gekuschelt.

Damit kann ich vielleicht verdeutlichen, wie restlos erschöpft ich war, auch wenn Worte es dennoch irgendwie nicht fassen können. Etwas mehr als vier Monate war sie da alt. Das war jedenfalls der Punkt, an dem wir uns zu getrennten Schlafverhältnissen entschieden: die erste Hälfte der Nacht verbrachte der Papa mit Emilia und ich auf dem Gästebett; gegen 2 Uhr in der Früh stillte ich das Baby und der Mann (der morgens wieder zur Arbeit musste) wanderte ins Gästebett. Wer im Gästebett liegen durfte, brachte es hin und wieder auf drei bis vier Stunden Schlaf. Immerhin.

In mir machte sich Panik breit, wenn der Mann sich morgens für die Arbeit fertig machte. Gleich ist er weg. Gleich bin ich wieder mit diesem schreienden Etwas allein. Warum hasst mich mein Kind so? Ich tue doch alles, aber es schreit mich nur an. Es machte mich wütend. Aggressiv. Dafür hatte ich also meinen geliebten Job an den Nagel gehängt? Ich dachte, mein Leben sei zu Ende. Dass es nun immerzu so weitergehen würde. Aber selbst schuld, wie die Leiterin des PeKIP-Kurses mir erklärt hatte – ich hatte ja keinen Babymassagekurs besucht und dabei beruhigt sich nunmal jedes Kind. Genau wie sich jedes Kind im Tragetuch beruhigt. Oder beim Autofahren. Oder beim Geräusch eines Föns. Jedes. Nur unseres nicht.

Sie bewegte sich nicht wie die anderen Kinder im PeKIP. Während die robbten, krabbelten, sich teilweise schon hochzogen lag sie auf dem Rücken und mochte sich nicht einmal auf den Bauch drehen. Faul halt, sagten die einen, du nimmst ihr ja auch alles ab. Hör auf, sie mit anderen zu vergleichen, sagten die anderen, jedes Kind ist individuell. Aber meines ist unzufrieden, ich suche den Grund!

Ein besonders trister Tag brachte für mich die Wende. Schon in den frühen Morgenstunden hatte sie zu schreien begonnen; sie wollte nicht liegen und stillen wollte sie schon gar nicht, drückte sich von der Brust weg und hyperventilierte fast. Und ich spürte nur noch Müdigkeit und Erschöpfung in mir, Traurigkeit und Verzweiflung und Wut, eine entsetzliche Wut – ich bekam Angst. Ich trug sie hoch, legte sie in ihr Gitterbettchen, in dem sie ohnehin nie lag, streichelte ihr beherrscht übers rote Gesichtchen und ging raus.

Aber Kissen boxen brachte mir nichts mehr, Wolldecke treten auch nicht, ich marschierte sinnlos durch die Wohnung, sie schrie oben allein und das schlechte Gewissen fraß mich nahezu auf, dennoch überlagerten Wut und Angst alles andere – ich konnte mir nicht vorstellen, je wieder nach oben zu gehen, schon der Gedanke daran brachte mein Blut zum Kochen. Verzweifelt schnappte ich mir eine Zigarette aus dem Vor-Schwangerschafts-Fundus und rief die Schreiambulanz an. Die Frau meldete sich mit ruhiger Stimme, und ich konnte nur noch in den Hörer weinen „Bitte helfen Sie mir. Bitte. Ich hab Angst, ich tue ihr oder mir gleich was an.“

Über zwei Stunden hatte ich die gute Frau in der Leitung. Nach etwa 15 Minuten war ich so weit, dass ich hinaufgehen und das durchgeschwitzte Baby wieder zu mir nehmen konnte. Ich fühlte mich, als hätte man mich verprügelt. Es muss sich was ändern, beschlossen wir an diesem Abend und zwar sofort. Das Geschrei in dieser Form ist nicht normal. Wir sind uns sicher, mit dem Kind stimmt was nicht – auch wenn alle das Gegenteil behaupten.

Ich suchte einen weiteren Kinderarzt und einen Orthopäden, der auf Babies spezialisiert war, und konnte nach Schilderung der Sachlage kurzfristige Termine ergattern. Ich machte mir nicht viel Hoffnung, wusste aber auch nicht, was ich sonst hätte tun können. Knappe 10 Monate Dauergeschrei lagen nun hinter uns. 10 Monate, die uns mehr als alles abverlangt hatten. Aus einem glücklichen Paar waren ein erschöpfter Papa und eine unglückliche Mama geworden, die nur noch das Nötigste sprachen und sich ansonsten dem Fliegergriff und anderen Wundermitteln widmeten.

Herrschte einmal Stille – weil die Kleine tatsächlich nicht schrie oder vielleicht gerade mit dem Papa eine Runde spazieren war – hörte ich sie in meinem Kopf dennoch schreien. Ich schreckte aus meinem seltenen Schlaf hoch weil ich meinte, ein schreiendes Baby zu hören – auch wenn keines da war. Ich hatte die fürchterlichsten Träume, die man sich vorstellen kann und weigerte mich, das Kind allein zu baden – weil ich geträumt hatte, sie würde mir beim Baden versehentlich ertrinken. Ich war nicht mehr ich. Und ein Stück weit habe ich diese Zeit nie überwunden.

Der Orthopäde begrüsste die bis auf eine Windel nackte Maus mit den Worten „Na Süße, was hast du denn für ein schiefes Köpfchen?“ und schaute verwundert, als ich hemmungslos in Tränen ausbrach. Sie hatte unzählige Blockaden in der Wirbelsäule und so kam es zu Bewegungseinschränkungen – und schlimmen Schmerzen. Ich war entsetzt, als der Arzt seiner Mitarbeiterin auftrug, eine Notiz in die Akten zu setzen: „Kind etwa fünf Monate entwicklungsverzögert“. Er behandelte Emilia manuell und verschrieb Krankengymnastik nach Voijta, was ich ablehnte, nachdem ich mich schlau gemacht hatte. Bobath brachte uns auf den Weg, noch in der selben Woche hatten wir die erste Stunde.

An jenem Abend begann sie zu krabbeln.

Nachdem sie 10 Monate geschrien hatte, brauchte sie erwartungsgemäß noch viele Monate, um aus diesem Schreimuster herauszufinden. Sie schien immer irritiert, wenn es ruhig war – sie kannte das ja auch kaum. Sie schlief nun erstmals auch tagsüber mal eine Stunde – zwar ausschliesslich auf mir drauf und in meinem Arm, aber sie schlief! Als sie auf den Tag genau 18 Monate alt war, machte sie das erste Mal in ihrem Leben Mittagsschaf auf der Couch, einfach so. Mit 18 Monaten.

Ein unzufriedenes Kind ist sie in gewisser Weise bis heute und ich überlege oft, wie viel davon wohl Typsache sein mag, Charakter – oder doch erworben? Dass ich auf diese Frage keine Antwort erhalten werde, ist mir klar. Gesundheitlich hat sie heute keinerlei Einschränkungen. Ihre Eltern hat diese Zeit in jedem Fall sehr geprägt; das Schreien eines Babys (auch eines fremden) versetzt mich unmittelbar in die altbekannte Mischung aus Panik und Hilflosigkeit, was mir insbesondere den Umgang mit meiner zweiten Tochter sehr erschwerte.

Ich bin weit davon entfernt, betroffenen Eltern Ratschläge erteilen zu wollen. Es ist mir ein Anliegen, unsere Geschichte zu erzählen, denn Stillen und Tragen und Osteopathen und Globuli sind nicht immer der heilige Gral.

„Du kennst dein Kind. Du hast es neun Monate unter deinem Herzen getragen, und niemand – keine Stillberaterin, keine Hebamme, kein Außenstehender – kennt es so gut wie du. Höre auf dein Herz. Auf dein Gefühl. Und wenn dein Gefühl dir sagt, etwas stimmt nicht – dann stimmt etwas nicht. Was auch immer der Rest der Welt sagt. Und dann bleibe dran und suche eine Lösung.“

Worte, die mir von einer Beraterin gesagt wurden. Diese Worte tragen mich bis heute. Und schlussendlich sind sie das einzige, was zählt.

An dieser Stelle möchte ich mich von ganzem Herzen bei der Gastautorin bedanken. Sie möchte zu ihrem eigenen Schutz lieber anonym bleiben und ich finde es großartig, dass sie die Kraft und den Mut aufbrachte, diese Geschichte für uns aufzuschreiben.

Mir steckt immer noch ein dicker Kloß im Hals…
Eure Kathrin

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