Sind nur stillende Mütter gute Mütter?

Kathrin Stillen 28 Kommentare

Wenn Muttermilch das Beste für das Kind ist, sind dann Frauen, die ihre Babys nicht stillen, weniger gute oder gar schlechte Mütter? Ehrlich gesagt, dachte ich genau das am Anfang meines Mutterseins. „Wie kann eine Mutter ihrem Säugling nur Kunstmilch geben? Warum verweigert sie ihrem Kind das Beste, was die Natur ihm zu bieten hat? Wie egoistisch“, glaubte ich.

Und dabei war ich mit meinen urteilenden Gedanken die Egoistin, denn mir flog das Stillen einfach zu. Von der ersten Sekunde an trank unser Mädchen wie ein Vollprofi an meiner Brust. Sie nahm stetig zu, ich hatte nur wenige, körperliche Beschwerden – eine harmonische und glückliche Stillbeziehung wie im Bilderbuch.

Dass das Stillen auch anders laufen kann, kam mir überhaupt nicht in den Sinn.  Ich dachte allen Ernstes jede Frau könne stillen, wenn sie es wirklich will und ahnte dabei nicht, wie glücklich ich mich schätzen darf. Denn was für mich zum Alltag gehört – meine Tochter durch meinen Körper zu nähren – bleibt für viele Frauen ein unerreichbares Ziel.

Erst durch meine Ausbildung zur Stillberaterin begriff ich, wie kompliziert ein Stillstart verlaufen kann. Wie fragil eine Stillbeziehung ist. Wie viele Faktoren sie beeinflussen, zum Teil weit vor der Geburt. Und wie sehr Mütter, die gerne stillen möchten, es aber nicht schaffen, darunter leiden.

Ich stellte mich lange Zeit über diese Mütter, im Glauben sie griffen aus oberflächlichen Gründen zum Fläschchen. Ich assoziierte Muttermilch mit der Bereitschaft für das eigene Kind da zu sein und maß die Intensität der Mutterliebe an der Ernährungsform. Ich hielt mich für etwas besseres, weil ich stillte.

Doch dann wurde ich mit persönlichen Stillgeschichten konfrontiert und mit jeder Frau, die sich mir öffnete, wich mein Hochmut ein Stückchen mehr.  Da waren Mütter, die direkt nach der Geburt von ihren Kindern getrennt wurden und mit Milchpumpe und enormer Willenskraft gewappnet alles daran setzten, in einer (still-) unfreundlichen Krankenhausatmosphäre Muttermilch für ihr Baby zu gewinnen. Mütter, denen eingeredet wurde, sie können nicht stillen, weil ihre Brüste angeblich zu klein/ zu groß oder die Brustwarzen nicht die richtige Form hatten – oder weil noch nie eine Frau in dieser Familie stillen konnte. Mütter, die mit unfassbar schmerzhaften Stillproblemen kämpften. Mütter, die aufgrund von Essstörungen, sexuellen Übergriffen in der Vergangenheit oder anderen psychisch belastenden Problemen mit der Stillentscheidung haderten. Mütter, die gegen den Willen ihres Partners stillten – sogar heimlich. Und eine Mutter, der nach einer Brustkrebs-OP nur eine Brust zum Stillen blieb…

Mit jeder Geschichte änderte sich mein Bild von nichtstillenden Frauen zunehmend. Meine Arbeit als Stillberaterin lehrte mich auf sehr emotionale Weise zwei Dinge:

1.    Jede Stillgeschichte ist einzigartig und darf niemals mit der eigenen verglichen werden.
2.    Hinterfrage, was du siehst und stecke Menschen nicht innerhalb von wenigen Augenblicken voreilig in eine Schublade.

Seitdem schaue ich genauer hin. Beispielsweise wenn Frauen von Milchmangel (der meistgenannte Abstillgrund) sprechen. Was steckt hinter der Aussage „Ich habe keine/ zu wenig Milch“? Eine Tatsache? Ein Gefühl? Oder gar eine Schutzreaktion?

Nur etwa 2-3% der Frauen sind physiologisch gesehen, nicht in der Lage zu stillen. Stillen erfordert aber nicht nur einen gesunden Körper, sondern auch einen freien Kopf und genau das ist das Problem.

In Deutschland dürfen sich Mütter nach der Geburt weder entspannt auf ihr Baby noch auf das Stillen einlassen. Es gibt kaum stillende Vorbilder, an denen sie sich orientieren können, stattdessen jede Menge Druck, irreführende Behauptungen und hohe Erwartungen von Familie und Umfeld. Immer wieder berichten Frauen von Krankenhauspersonal, welches flugs mit künstlicher Säuglingsnahrung herbei eilt, wenn das Stillen nicht sofort richtig klappt.

Dabei bedürfte es oft nur Ruhe und Zeit und vor allem ermunternden Zuspruch. Frischgebackene Mütter durchlaufen eine hormongesteuerte Achterbahnfahrt der Gefühle, sie sind verletzlich und unsicher. Sie brauchen verständnisvolle und kompetente Betreuung. Jemand, der sie auffängt, anleitet und unterstützt – auch bei Stillfragen. Soweit die Theorie. Die Frauen, die ich beriet, waren meist wenige Tage nach der Geburt auf sich allein gestellt – erschöpft, überfordert und überzeugt nicht genug Milch zu haben.

Fakt ist, dass viele Faktoren die Milchbildung negativ beeinflussen und den Stillstart erschweren können: Mangelnde oder inkompetente Stillberatung, fehlende Unterstützung und Stress, dazu zählen Ängste, Zweifel, mangelndes Selbstvertrauen und Unzufriedenheit (siehe „Stillen ist Kopfsache“).

Fakt ist aber auch, dass einige Tage vergehen bis Mutter und Kind ein eingespieltes Still-Team sind – bis die Milch so richtig fließt. Dass Babys phasenweise in kurzen Abständen (alle ein bis zwei Stunden oder noch öfter) trinken wollen und in den Abendstunden unruhiger sind („Warum weint mein Baby?“). Dass der Milcheinschuss nicht oder nach einigen Wochen nicht mehr zu spüren ist. Allerdings werden diese und ähnliche „Symptome“ häufig als Milchmangel interpretiert (siehe „Fachinformationen Milchmangel in der Stillzeit“).

Obwohl ein Stilltrend in Deutschland zu verzeichnen ist, stehen Frauen (auch in stillfreundlichen Krankenhäusern) noch immer vor unlösbaren Stillproblemen und fachlich mangelnder Betreuung. Nicht jeder Stillwunsch – immerhin nehmen sich 90% aller deutschen Mütter vor zu stillen – führt zu einer erfüllten Stillbeziehung.

Wer es trotz aller Bemühungen nicht schafft, sein Kind mit dem eigenen Körper zu nähren, empfindet dies meist als große Belastung. Als wäre das nicht schwer genug, berichten nichtstillende Mütter von vorwurfsvollen Blicken, wenn sie das Fläschchen auspacken, von giftigen Kommentaren und der Frage aller Fragen: „Wie Du stillst nicht?“

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der für Schwäche, Scheitern und persönliche Entscheidungen kein Platz ist. Die perfekte deutsche Mutter stillt sechs Monate lang – mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen, egal wie (schlecht) es ihr dabei geht. Wenige Tage Stillzeit zählen nicht. Schmerzen und Sorgen gelten als Ausrede. Die wahren Gedanken und Gefühle einer Mutter interessieren kaum. Und da darf es natürlich auch nicht sein, dass Mütter nicht stillen wollen. Doch warum nicht?

Als Stillberaterin wünsche ich zwar jedem Baby, dass es Muttermilch erhält, doch jede Mutter sollte ihrem Kind geben dürfen, wozu sie sich in der Lage fühlt. Manche wollen sich Tag und Nacht ausschließlich um ihren Nachwuchs kümmern – sogar jahrelang. Andere brauchen regelmäßigen Abstand und Auszeiten, um ihrer Rolle als Mutter gerecht zu werden. Eine bewusste Entscheidung gegen das Stillen mag von außen betrachtet egoistisch erscheinen, kann aber durchaus klug sein. Beispielsweise, wenn sich eine Mutter der Verantwortung nicht gewachsen fühlt, ständig für ihr Baby da zu sein.

Das bringt mich zurück zur Ausgangsfrage: „Sind nur stillende Mütter gute Mütter?“ Nun, was genau zeichnet eine gute Mutter aus? Wer legt fest, was gut und was schlecht ist? Und warum interessieren wir uns überhaupt für die Entscheidungen anderer Mütter? Weil wir uns anhand fremder Lebensentwürfe aufwerten wollen? Weil wir Bestätigung suchen? Gesprächsstoff brauchen? Aus Langeweile?

Ich für meinen Teil, fühlte mich durch jede Mutter, die nicht stillte/ sich für einen anderen Erziehungsweg entschied, verunsichert. Schließlich versuchte ich mich auf die bestmögliche Weise um meine Tochter zu kümmern. Alle Entscheidungen, die ich fällte, basierten auf zermürbenden Grübeleien, geduldigem Ausprobieren und stundelangen Diskussionen mit Partner, Freunden und Verwandten. Ich kämpfte so hart für unseren Weg (Familienbett, Tragen, breilose Beikost, Langzeitstillen), dass er einfach der Beste sein musste. Jeder Gegenentwurf schürte meine Zweifel und Ängste. Hatte ich vielleicht doch nicht alles richtig gemacht?

Und genau das sehe ich in dem erbitterten Konkurrenzkampf, den Mütter heute auf allen Ebenen ausfechten. Sie verteidigen ihre Ansichten und Meinungen – ihr Lebenskonzept bis auf’s Messer. Vor allem im Internet, wo sie anonym so richtig Dampf ablassen können. Schließlich wollen doch alle das Beste für ihr Kind. Jede Mutter handelt nach bestem Wissen und Gewissen und aus tiefster Überzeugung. Da ist nur ein Problem: Es gibt ihn gar nicht, den einen wahren Weg eine gute Mutter zu sein, sondern unzählige, ganz individuelle Möglichkeiten…

Muttermilch ist unbestritten die wertvollste Nahrung für ein Menschenbaby, aber Mütter, die nicht stillen, sind deswegen keine schlechten Mütter! Oder umgekehrt stillende Mütter sind nicht automatisch liebende Mütter – gestillte Kinder nicht zwangsläufig glücklichere Kinder. Eine tragfähige Mutter-Kind-Beziehung hängt von vielen Faktoren ab und ist zweifellos auch ohne Stillen möglich. Damit eine sichere Bindung und ein liebevolles Verhältnis entstehen können, braucht es weit mehr, als (s)einem Kind die Brust zu geben.

Eines verstehe ich jedoch gut: Wer erfahren durfte, welches Glück das Stillen bedeutet, verspürt oft ein starkes Verlangen diese wundervolle Erfahrung weiter zu geben. Anderen Müttern zu eben diesem „Still-Glück“ zu verhelfen. Das Problem dabei ist, dass wir Menschen, die nicht offen für unsere Anregungen sind, nicht erreichen können. Wer mag schon ungebetene Einwände und Ratschläge? Als Stillberaterin konzentriere ich mich deshalb lieber auf die Mütter, die meine Hilfe wirklich wollen und übe mich sonst in Zurückhaltung, auch wenn es schwer fällt.

Bleibt zum Schluss noch eine Frage: Warum machen wir Mütter uns das Leben gegenseitig so schwer?
Ihr wollt für eure Entscheidungen respektiert werden? Dann respektiert andere in ihren Entscheidungen! Oder fragt nach, wenn ihr etwas nicht versteht, aber urteilt nicht, ohne den Hintergrund zu kennen. Wir können nichts bewegen, wenn wir uns mit Vorurteilen, Kritik und Beschimpfungen begegnen. Damit ziehen wir lediglich den Unmut anderer auf uns und werden am Ende selbst beschimpft.

Wir sitzen alle im selben Boot, denn egal für welchen Lebensentwurf wir uns entscheiden, Kritiker lauern überall. Umso wichtiger ist es, dass wir Mütter zusammenhalten statt uns wegen belangloser Meinungsverschiedenheiten oder konträren Erziehungsansichten gegenseitig in den Rücken zu fallen.

Ob wir nun stillen oder nicht – wer sein Kind liebt, ihm Nähe und Geborgenheit schenkt, es versorgt, tröstet und wahrnimmt, kann keine schlechte Mutter sein. Das wichtigste dabei ist, an sich selbst zu glauben und sich nicht von anderen verrückt machen zu lassen. Gelegentlich mit etwas Abstand zu reflektieren, ob der eingeschlagene Kurs noch stimmig ist. Letztendlich zählt nicht, ob wir für unsere Freunde, Familie oder Nachbarn eine gute Mutter sind,  sondern ob wir es für unsere Kinder sind.

 

 

Newsletter Kathrin

Ich bin überglücklich, dich auf diesem Wege mit Neuigkeiten und kleinen Aufmerksamkeiten versorgen zu dürfen. Trage dich in den Nestling Newsletter ein.