Kinder und Kleidung: Ich will das nicht anziehen!

Kathrin Familie 1 Kommentar

Wer mir auf Instagram folgt, weiß, dass der Bub im Sommer vorzugsweise die Kleider seiner Schwester trug und im Winter plötzlich eine ausgeprägte Leidenschaft für Star Wars Schlafanzüge entwickelte. Alle Alternativen, die ich ihm anbot, wurden vehement mit „Ich will das nicht anziehen!“ abgeschmettert.

Das Mädchen dagegen ignorierte lange Zeit ihre Kleider und zog am liebsten Leggings und T-Shirts mit Elsa-Aufdruck an. Die Shirts steckte sie in die Hosen und die Hosen in die Socken, welche sie gaaanz lang in Richtung Knie zog. Ich fand ihren Geschmack furchtbar und sie meinen. „Ich will das nicht anziehen!“ bekam ich auch von ihr oft zu hören.

Mach doch, was Du willst

Beim Mädchen reagierte ich damals zunächst unwirsch, weil ich gewohnt war, dass sie gerne anzog, was ich für sie aussuchte und ihr Sinneswandel zudem stattfand, als ich sie gerade mit Klamotten für die ganze Saison eingedeckt hatte. Ich war verärgert, weil viele hübsche Teile unbeachtet im Schrank verstaubten, während ihre Lieblingsstücke bald abgetragen aussahen. Außerdem war sie erst vier Jahre jung – so früh hatte ich keineswegs mit einer „Anzieh-Revolte“ gerechnet.

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Einer der seltenen Momente, in dem sie meiner Kleiderwahl zustimmte.

In dem Shirt kann man meine Brustwarzen sehen!

Sie hatte anscheinend tatsächlich schon einen eigenen Sinn für Mode entwickelt, aber es gab noch einen weiteren Grund für ihre Verweigerung. Auf meine Frage hin, warum sie eines ihrer Lieblingsshirts plötzlich nicht mehr mag, sagte sie: „Der Ausschnitt unter den Armen ist so groß und Lukas hat gesagt, dass er durch diesen meine Brustwarzen sehen kann!“

Ich fand es schade, dass ihr die Meinung von Lukas so viel bedeutete, aber Hänseleien fühlen sich blöd an. Das verstand ich sehr gut und so sortierte ich dieses Oberteil zu ihrer Erleichterung aus.

Du musst das nicht anziehen

Das letzte was ich wollte, waren Streitereien um Anziehsachen und zwar völlig egal, welche Ursache dahinter steckte. Zum größten Teil hatte sie schlichtweg das Bedürfnis selbst entscheiden zu wollen. Ein „großes“ Mädchen zu sein. Da das ein Aspekt unseres Erziehungsweges war, den ich immer respektiert habe, wollte ich ihr bei der Kleiderwahl nicht plötzlich meinen Willen aufzwingen.

Zeige mir, was Dir gefällt

Da ich aber weder einschätzen konnte, was ihr gefiel, noch Geld verschwenden wollte, ließ ich sie von da an ihre Anziehsachen selbst aussuchen. Bei meinen Eltern hätte es so einen „Tamtam“ nie gegeben, aber ich kann mich auch noch gut an damals erinnern und wie schrecklich ich mich oft in den Klamotten gefühlt habe, die ich anziehen musste.

Jugendweihe

Mein Jugendweihekleid. Ich versuchte mit Würde zu tragen, was mir nicht gefiel. Und nein, das war selbst damals (vor 25 Jahren) nicht modern.

Ich ließ sie von da an jedes Kleidungsstück anprobieren, bevor wir es kauften. Das war zwar umständlich, aber so konnte sie sich alles nach ihrem Geschmack aussuchen, es gab keinen Streit mehr und ich musste mich nicht über unnötig ausgegebenes Geld ärgern. Für uns eine prima Lösung.

Über Geschmack lässt sich nicht streiten

Als das Mädchen begann, ihre Hosen in die Socken zu stecken und für meine Augen seltsame Farbkombinationen zu wählen, lag mir auf den Lippen, dass das komisch aussieht. Gleichzeitig merkte ich, dass nur ich (und nicht sie) so empfand und verkniff mir jeglichen Kommentar. Denn wer sagt denn, dass mein Geschmack der bessere ist? Vielleicht wird ihr Kleidungsstil ja irgendwann zum letzten Schrei. Doch selbst wenn nicht, trägt sie genau das, was ihr am besten gefällt und worin sie sich am wohlsten fühlt. Das ist doch letztendlich das einzige, was zählt.

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Ihre Wahl, die auch mir gefiel. Sehr sogar 🙂

Mama, der Junge trägt ein Kleid!

Als der Bub mit zwei Jahren begann, sich für die Kleider seiner Schwester zu interessieren, war ich schon so im Reinen mit dem „Ich ziehe an, was ich will – Thema“, dass ich nur noch zustimmend nickte.

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Der Bub im Sommer 2017 auf Erkundungstour im Kleid.

Diese Phase währte nur kurz, aber sorgte für reichlich Gesprächsstoff auf den Spielplätzen, wenn die Anwesenden bemerkten, dass der Lockenkopf gar kein Mädchen ist. Diskutiert wurde hauptsächlich unter Kindern, die genau wussten, dass Jungs keine Kleider oder Spangen tragen dürfen. Ich fragte immer nur „Warum?“ und sorgte so für ratlose Gesichter.

Junge-im-Kleid

Da wir zu diesem Zeitpunkt frisch nach New York gezogen waren und der Bub kaum Englisch verstand, bekam er nicht viel von dem Gerede mit. Das war großartig, denn so ging das Schubladendenken an ihm vorbei, das die Werbeindustrie unserer Gesellschaft erfolgreich vermittelt hatte.

Ich hinderte ihn nicht daran, Kleider zu tragen, aber machte auch kein großes Thema daraus. Schließlich sind das auch nur Kleidungsstücke wie all die anderen. Zumindest für mich.

Übrigens:
In tropischen Ländern tragen Männer Rock, Wickeltuch oder Schurz, in Asien sind weite Pluderhosen bei Frauen weit verbreitet, in eher kalten Gebieten tragen Mann wie Frau lange Fellhosen. Auch in unserem Kulturkreis war die Kleidung von Mann und Frau lange Zeit ähnlich. Lange Gewänder wurden von Mann und Frau bis zum späten Mittelalter getragen. Das Tragen von Hosen, dem „neuen“ Kleidungsstück bei Hofe, wurde ab diesem Zeitpunkt dem Mann allein überlassen und schnell verknüpften sich die Merkmale des Hosentragens mit den Merkmalen des starken Geschlechts. Wer die Macht besaß, hatte die Hosen an, und umgekehrt (aus „Der Kampf um die Hose„).

„Das ist doch ein Schlafanzug!“ „Na und?!“

Ein paar Monate später begann die „Schlafanzug-Phase„. Unser Nachbarjunge hatte dem Bub einen Star Wars Pyjama vererbt und mein Spross war augenblicklich Feuer und Flamme für diesen. Er liebte den Zweiteiler so innig, dass er ihn rund um die Uhr tragen wollte. Im Bett, beim Einkaufen, beim Trampolin hüpfen und so weiter.

Als seine Schwester ihm zuflüsterte, dass die Leute ihn wahrscheinlich darauf ansprechen werden, weil es ein Pyjama ist (und zu diesem Zeitpunkt hätte er es sehr wohl verstanden), entgegnete er „Na und!“ und lief weiterhin stolz und glücklich darin herum. „Look what I have!“ sprach er ganz im Gegenteil wildfremde Menschen an, auf sein Star Wars Oberteil zeigend. Ich dagegen staunte nur wie selbstbewusst und hartnäckig er sein Ding durchzog, weil es IHM gefiel.

Star-Wars-Pyjama

Das heilige Erbstück vom Nachbarsjungen

Auch diesmal unternahm ich nichts, um ihn von anderen Kleidungsstücken zu überzeugen. Ich hatte lediglich noch zwei weitere Anzüge besorgt, damit er nicht anfing zu müffeln und ich sie waschen konnte, ohne dass er in Tränen ausbrach. Diese trug er dann mit beeindruckender Beharrlichkeit mehrere Wochen im Wechsel.

Star-Wars-Schlafanzug

Zugfahrt im Star Wars Pyjama

Kann ich meine Jacke ausziehen?

Regelmäßig seufzen hören mich meine Kinder, wenn sie sich bei kühleren Temperaturen entkleiden wollen, doch auch hier lasse ich sie meist entscheiden.

Ich bin nämlich eine mächtige Frostbeule und krame schon bei Temperaturen unter 10 Grad meine Woll-Fäustlinge raus. Das Mädchen dagegen ist von Natur aus ein recht heißer Typ und zudem eine von der aktiven Sorte – sie hangelt, rennt und springt unermüdlich. Es ist also durchaus möglich, dass ihr bei fünf Grad ein dünnes Shirt ausreicht, während ich im dicken Wintermantel friere.

Hangeln

Sonnige aber kalte 7 Grad auf dem Schulspielplatz und das Mädchen in ihrer „Wintersportkleidung“.

Manchmal unterschätzen die Nestlinge die Temperaturen – im Winter wollte der Bub beispielsweise nach einem Besuch in einem mollig warmen Museum barfuß raus in den Schnee. Statt zu widersprechen, ließ ich ihn seine eigenen Erfahrungen sammeln. Es dauerte keine drei Schritte, bis er merkte wie sehr die Kälte an den Füßen schmerzt und er zog seine Schuhe geschwind und freiwillig wieder an. Auf diese Weise erlangten beide Nestlinge ein ziemlich gutes Gespür dafür, wie viel oder wie wenig Kleidung sie für IHRE Wohlfühltemperatur benötigen.

Interessanterweise waren beide Nestlinge im gesamtem Winter 17/18 nicht ein einziges Mal krank. In Deutschland hatten beide meist eine Dauerschnupfnase und hartnäckigen Husten. Obwohl ich das permanente Desinfizieren der Hände und sämtlicher Oberflächen in den amerikanischen Schulen anfangs belächelt habe, könnte das tatsächlich den Großteil der Erreger aus dem Weg geräumt haben. Das regelmäßige Weglassen von Jacke und Mütze hat hier jedenfalls keine Erkältung verursacht.

Übrigens:
„Aus dem medizinischen Bereich lässt sich nicht nachweisen, dass eine unterkühlte Körpertemperatur die Infektion mit Erregern erhöht oder gar einer Erkältung Vorschub leistet. Entscheidend ist der Kontakt mit Krankheitserregern. Natürlich ist die kalte Jahreszeit auch eher dafür „geeignet“, dass wir uns erkälten, da wir vermehrt Zeit in geschlossenen Räumen verbringen, die eher trockene Heizungsluft einatmen und nicht selten öffentliche Verkehrsmittel nutzen, in denen sich Viren und Bakterien nur zu gerne einnisten“ (aus „Mythos oder Medizin“).

Warum eigentlich nicht?

Als ich zum ersten Mal schwanger war, habe ich mir sicherlich nicht vorgestellt, dass sich das Mädchen mit vier Jahren ihren Kleiderschrank selbst bestückt und im Winter halb nackig draußen herum läuft. Bei der zweiten Schwangerschaft habe ich mir auch nicht den Bub im Kleid seiner Schwester ausgemalt. Aber es gibt so unendlich viele Situationen, die sich völlig anders entwickelt haben, als geplant und das ist aus meiner heutigen Sicht völlig in Ordnung.

Letztendlich ist keines der oben genannten Anzieh-Themen so bedeutend für mich, dass ich mich deswegen immerzu mit meinen Kindern streiten möchte. Das Leben ist zu kurz und wertvoll für Zoff über Belanglosigkeiten. Da gibt es ganz andere Dinge, auf die ich Wert lege und in die ich meine Energie hineinstecke. Geputzte Zähne zum Beispiel.

Bitten mich meine Kinder um etwas, das in meiner Vorstellung total abstrus ist (wie das Spielen auf der Straße mit Taucherbrille und Schnorchel), antworte ich nicht mehr gewohnheitsgemäß mit „Nein!“, vor allem dann nicht, wenn sie mich mit großen Rehaugen anschauen und ein bettelndes „Büütteeee!“ hinterher schieben. Ich stelle mir stattdessen die Frage „Warum eigentlich nicht?“

Solange es sich um „ungefährliche“ Wünsche handelt, bin ich gerne bereit, von meinen alten Ansichten abzurücken und mich darauf einzulassen. Das Mädchen ist glücklich, weil sie Verantwortung für ihre Garderobe übernehmen darf und der Bub, weil ihn niemand ihn in eine „Geschlechter-Schublade“ zwängt. Beide fühlen sich gut, weil ich ihnen vertraue und sie unterstütze, egal welche Kleiderwahl sie treffen. Manchmal benötigt es wirklich nur kleine Kompromisse auf beiden Seiten, um Konflikte oder Meinungsverschiedenheiten friedlich zu lösen. 

Billy-elliot

Der Bub mit seiner Schwester und einer Freundin bei einer „Ballettaufführung“

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